Die aktuelle gesellschaftliche Situation hat vielen von uns einen neuen Lebensrhythmus auferlegt. Social Distancing, Home Office, Home Schooling, Kindergarten- und Schulfrei zwingen uns scheinbar dauerhaft zu mehr Kooperation, mehr Rücksicht, mehr Empathie draußen, wie drinnen. Und gleichzeitig erleben gerade wir als Eltern, wie unsere Bedürfnisse nach Raum für uns, Ruhe oder Selbstbestimmung immer länger in Not bleiben und wir um Strategien ringen, die in dieser unfassbar anstrengenden Lebenssituation irgendwie funktionieren. Viele von uns Eltern leiden immer mehr unter enormem Druck, die Zündschnur wird immer kürzer. Die Liste der täglichen Konflikte hingegen erlebt exponentielles Wachstum.
Ein Gedankenspiel
Nehmen wir mal an, wir haben an einem typischen Homeeverything-Tag die meisten brenzligen Situationen mit unserem Kind so gelöst, dass sich alle Beteiligten am Ende dabei irgendwie einigermaßen wohl gefühlt haben. Aber eine, echt nur EINE, die ist völlig in die Hose gegangen. Wir sind ausgeflippt, haben unser Kind angebrüllt, welches daraufhin völlig aufgelöst in sein Zimmer rannte. Achtsamkeit? Fehlanzeige. Mitgefühl? Gleich null. Wir haben‘s wieder einmal vermasselt. Wieder einmal? Moment mal. Eine Situation von wie vielen? Vielleicht zehn. Und trotzdem sind die restlichen neun mit großer Wahrscheinlichkeit nicht die Situationen, die wir vor dem Zubettgehen ganz intuitiv feiern möchten. Wieso eigentlich?
Die Negativitätstendenz des Gehirns
Evolutionsbedingt hat unser Gehirn in den letzten Jahrtausenden gelernt, kritische Ereignisse als relevanter einzustufen als die erfreulichen. Denn als wir noch gegen Säbelzahntiger unterwegs waren, war es für uns aus Überlebenssicht einfach wichtiger, uns daran zu erinnern, wann dieser Säbelzahntiger unseren Weg kreuzen könnte. Die wunderbare Verbindung, die wir gestern Abend am Lagerfeuer mit unseren Mitmenschen vielleicht gespürt haben, musste in unserem Gedächtnis aus Gründen der Effektivität erst einmal weichen. Es ging also darum, sich stets – und ohne großes Nachdenken - daran zu erinnern, wie wir am besten überleben. Und das erledigte unser Gehirn so zuverlässig, dass sich über die Jahrtausende der sog. NEGATIVITY BIAS - die Negativitätstendenz - entwickelt hat. Forscher, wie z.B. der US-amerikanische Neuropsychologe Rick Hanson, schätzen, dass sich Negativerlebnisse im Vergleich zu Positiverlebnissen in einem Verhältnis von 5:1 in Gehirn verankern. Wenn wir also die suboptimal gelaufene Konfliktlösungsstrategie mit unserem Kind als fünfmal wichtiger einstufen als die Lösungen, die zur Harmonie in der Familie beigetragen haben, liegt auf der Hand, dass wir am Ende des Tages frustriert sein müssen.
Wirft dann am nächsten Morgen unser Schätzchen aus Versehen das Milchglas vom Frühstückstisch, fühlen wir uns als käme gerade der Säbelzahntiger um die Ecke um uns zu frühstücken. Alles auf Alarm!!! Das Ergebnis nach einigen dieser Erlebnisse? Wir werden zunehmend sensibler für stressige Situationen während unsere Fähigkeit, unsere Affekte zu kontrollieren, sinkt: eine Abwärtsspirale.
Keiner weiß, wie lange unser Familienalltag noch von dieser Pandemie bestimmt sein wird. Keiner weiß, ob es jemals wieder so sein wird wie früher oder ob das überhaupt erstrebenswert ist. Vieles ist unklar. Eins jedoch nicht: dass uns als Eltern weder eine hochsensible Alarmglocke noch eine sinkende Affektkontrolle dabei helfen werden, friedvoll mit unserer Familie zusammenzuleben.
Was wäre wenn?
Was kann uns helfen, in stressigen Situation gelassen, empathisch oder gar wohlwollend zu bleiben und unsere Konflikte im Sinne der Achtsamkeit als Chance zu sehen? Klar: eine Auszeit wäre super. Mal wieder entspannt ins Kino gehen. Yoga. Ein Kurzurlaub. Ist nur momentan alles nicht drin! Denn die meisten unserer Lieblingsstrategien, mit denen wir uns Bedürfnisse nach Raum für uns, Ruhe oder Selbstbestimmung erfüllen, sind derzeit entweder nicht verfügbar oder schlichtweg zu zeitintensiv.
Was wäre also, wenn wir nutzen, was schon da ist in der Zeit, die wir ohnehin mit unseren Lieben verbringen? Was wäre, wenn wir unser Gehirn so programmieren könnten, dass nicht nur umgefallene Milchgläser, sondern auch die Momente tiefer Verbindung nachhaltig in unsere grauen Zellen einsickern könnten? Was wäre, wenn wir dadurch den kleinen und großen Katastrophen unseres Familienalltags ein ganz klein wenig entspannter und gelassener begegnen könnten?
H.E.A.L.: Dem Guten intensiv Beachtung schenken
Wir können „positive Erfahrung absichtlich in unserem impliziten Gedächtnis internalisieren“, das bestätigen umfangreiche Studien zur Neuroplastizität des Gehirns. Anders ausgedrückt:
Jedes Mal, wenn wir bemerken, dass wir gerade einen schönen Moment erfahren, können wir diesen Moment ganz bewusst in uns aufnehmen und unser Gehirn ganz allmählich offener für das kleine Alltagsglück machen.
Für die Skeptiker unter Euch: Es geht nicht um vielleicht positivistische Affirmationen à la „Ich bin super entspannt!“ oder „Ich bin mega toll!“. Es geht darum, dem Guten in unserem Leben echte Beachtung zu schenken, es in uns aufzunehmen und unsere Stärken weiter auszubauen.
Der Neuropsychologe und Achtsamkeitlehrer Rick HANSON hat hierfür einen vierstufigen Prozess entwickelt: den sog. H.E.A.L.- Prozess, den ich im Folgenden kurz beschreiben möchte:
1.) HAVE
Du fängst im Familienalltag einen wunderbaren Moment ein. Vielleicht lächelt dich dein Kind auf eine ganz besondere Weise an. Vielleicht sagt oder tut es etwas, das Dein Herz berührt. Oder du selbst hast eine Konfliktsituation genau so gelöst, wie du es dir immer gewünscht hattest. Registriere den Moment und halte einen Augenblick inne.
2.) ENRICH:
Nimm diesen kleinen, wunderbaren Moment mit all deinen Sinnen in dich auf, gib ihm Zeit und Bedeutung. Atme die Wärme des Momentes ein, empfinde die Stimmung, die Energie, die fließt. Schau dir das Gesicht deines Kindes ganz genau an, registriere die kleinen Fältchen um die Mundwinkel und bestaune das Leuchten in seinen Augen. Geht es um dich, feiere diesen Erfolg sobald du ihn registriert hast. Spüre in dich hinein: wie fühlst du dich jetzt, was ist da gerade lebendig? Verweile 5 bis 10 Sekunden in dem Moment. Analysiere nicht. Nimm ihn einfach nur mit allen Sinnen wahr.
3.) ABSORB:
Stelle dir jetzt vor, dass dieser Moment für immer Teil von dir sein wird. Dieser Schritt ist recht abstrakt, denn für Jeden funktioniert er ein wenig anders. Wenn ich einen Moment bewusst in meinem Gehirn internalisieren möchte, stelle ich mir immer vor, dieser kleine Moment würde zerplatzen und Millionen winziger, glitzernder Regenbogen-Konfetti würden auf mich herabfallen und meinen Körper ganz und gar durchdringen – ähnlich wie Sonnenlicht. Du kannst dir auch innerlich vorstellen, wie du tief in diesen Moment eintauchst: schwerelos, leicht, unendlich. Was auch immer du tust, tue es in der Absicht, diese eine Erfahrung gezielt und effektiv in dein Unterbewusstsein zu befördern und dort abzuspeichern.
4.) LINK:
Der vierte Schritt ist nicht immer ganz einfach, daher würde ich empfehlen, ihn als optional zu betrachten und sich zunächst auf die ersten drei Schritte zu fokussieren. Bist du schon etwas geübter darin, „Gutes zu internalisieren“, versuche dich gerne daran: dem Verlinken der aktuellen positiven Erfahrung mit früheren negativen Erfahrungen. Am Beispiel deiner gut gelösten Konfliktsituation verbindest du dieses positive Gefühl ganz vorsichtig und behutsam mit einer „Gegenerfahrung“, also einem Moment, in dem du eine ähnliche Konfliktsituation vielleicht nicht ganz so lebensdienlich gelöst hast. Die Positiverfahrung bleibt sozusagen im Vordergrund, die Negativerfahrung dockt hinten an – und verliert dadurch an Präsenz.
Je öfter du das Positive in dich aufnimmst, desto weniger markant, weniger wichtig werden die Erfahrungen, die dich am Ende des Tages frustriert, traurig und genervt zurücklassen. Weil dein Gehirn mit etwas Übung die Fähigkeit entwickelt, auch die schönen Momente in deinem Unterbewusstsein zu verankern.
Und damit setzt du eine wirklich unterstützende Aufwärtspirale in Gang:
deine Bewusstheit steigt
deine Selbstwirksamkeit steigt
die Anzahl gewaltfrei gelöster Konflikte steigt
dein Stresspegel sinkt
die Frustmomente werden weniger
die Konflikte höchstwahrscheinlich auch
Und deine Bedürfnisse? Ich vermute mal, dass vielleicht Harmonie, Selbstwirksamkeit, Leichtigkeit und Zuversicht weniger schnell in Not geraten. Was schon mal eine gute Basis für eine etwas entspanntere Zeit mit deinen Lieben ist.
Viel Spaß beim Ausprobieren! Und wenn du mir ein Feedback zu diesem Beitrag geben oder deine Erfahrungen mit mir teilen möchtest, schreibe gerne einen Kommentar auf meinem Instagram-Account. Ich freu mich darauf!
Hey. Ich bin Constance, Achtsamkeits- und Meditationslehrerin für Eltern, Kommunikationstrainerin, Yogini und seit 2015 Zwillingsmama. Und immer wieder neu auf der Suche nach meiner inneren Wahrheit. Um mir und meiner Familie ein Leben in Bewusstheit und Authentizität zu ermöglichen.
Mindful. Authentic. Mostly.
Constance
Ich betreibe neben diesem Blog auch den dazugehörigen Instagram-Account, auf dem ich in familienkompatiblen Abständen über meine Reise in und durch ein bewusstes, authentisches ElternSein berichte. Wenn dir der Beitrag gefallen hat und du mehr über evidenzbasierte Achtsamkeit für Eltern erfahren möchtest, folge mir gerne unter @mindful.authentic.parenting. Dort gibt es jede Woche neue Impulse, praktische Übungen und Meditationen und du erhältst alle aktuellen News immer taufrisch auf deinem Handy. Ich freu mich auf dich!
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